15.06.2021
Lokales zivilgesellschaftliches Engagement für saubere Luft
von Melanie Nagel
Im BMBF-Forschungsprojekt „Gemeinwohl-relevante öffentliche Güter. Die politische Organisation von Infrastrukturaufgaben im Gewährleistungsstaat“ (GroeG) untersuchen wir die Bereitstellung und die politischen Rahmenbedingungen von Infrastrukturen, die sich in den letzten Jahrzehnten stetig gewandelt haben. Orientiert hat man sich dabei am Leitbild des „Gewährleistungsstaates“. Demnach soll der Staat Infrastrukturdienstleistungen und deren Qualität nicht zwingend selbst erbringen, sondern sicherstellen, dass deren Regulierung und Nutzung überwacht und durch Auflagen und Mindeststandards reguliert wird. Dieses Zusammenspiel zwischen staatlichen und privaten Akteur:innen wird immer wieder neu ausgehandelt. Rechtliche Kompetenzen und Zuständigkeiten haben sich verändert. Auch Fragen des Gemeinwohls und Erwartungen an die staatliche Gewährleistung wurden im Diskurs neu ausgehandelt. In den drei Handlungsfeldern des Projekts (saubere Luft, städtischer Wohnraum und ambulante ärztliche Versorgung) untersuchen wir, wie diese öffentlichen Güter konzipiert und gegenüber dem Gewährleistungsstaat eingefordert werden. Dabei richtet sich unser Blick unter dem Aspekt der Teilhabe besonders auf sogenannte „schwache Interessen“.
Das öffentliche Gut saubere Luft
Probleme und Auseinandersetzungen über das öffentliche Gut saubere Luft werden vor allem in städtischen Ballungsgebieten geführt. In großen Metropolen ist die Luftqualität häufig schlecht, hat sich jedoch insgesamt in Deutschland seit den 1990er Jahren deutlich verbessert. Dieses in erster Linie lokale Problem ist jedoch auch ein grenzüberschreitendes Problem. Die EU reguliert diese Emissionen im Rahmen der Richtlinie 2008/50/EU vom 21. Mai 2008. Nach wie vor sterben jedoch laut der Europäischen Umweltagentur in Deutschland jährlich ca. 66.080 Menschen an den Folgen von schlechter Luft. Vor allem Kinder, chronisch Kranke und ältere Menschen sind besonders betroffen. Auch Menschen mit geringerem Einkommen, häufig in prekären städtischen Wohnlagen, sind diesem Gesundheitsrisiko besonders ausgesetzt. In unserer ersten Fallstudie in Berlin wird dies deutlich anhand des Umweltatlas. Diese Karte zeigt die Wohnlage in Zusammenhang mit den verbundenen Umweltrisiken. Dieses Instrument gibt es bisher nur in Berlin und war auch dort jahrelang heftig umstritten. Es besteht die Befürchtung, dass die Informationen dazu führen könnten, dass Bürger:innen einen Anspruch auf saubere Luft ableiten, den die politisch Verantwortlichen so nicht einlösen können.
Welche Akteur:innen bringen sich ein und was können sie erreichen?
Wir analysieren diskursive politische Aushandlungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteur:innen und deren Rechtfertigungsmuster. Die Automobilindustrie dominiert seit Jahrzehnten diese Debatten als Motor der deutschen Wirtschaft und großer Arbeitgeber. Das Automobil-Paradigma prägt die Stadtplanung und beeinflusst die Aufteilung öffentlicher Flächen. In unseren Interviews mit Expert:innen aus Verwaltung, Umweltschutzorganisationen, zivilgesellschaftlichen Gruppen, Wirtschaftsunternehmen und dem Umweltbundesamt in Berlin wurde deutlich, dass besonders das Engagement von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen entscheidend ist für die Umsetzung von effektiven Maßnahmen zur Reduzierung der Luftverschmutzung. Zivilgesellschaftliche Gruppen, wie beispielsweise Changing Cities, haben mit Protestaktionen, Inszenierungsarbeit, Gerichtsverfahren und Überzeugungsarbeit maßgeblich dazu beigetragen, dass der Volksentscheid Fahrrad 2017 erfolgreich war und 2018 das Berliner Abgeordnetenhaus zusammen mit dem ADFC Berlin und dem BUND Berlin über das erste RadGesetz beraten hat, das dann auch beschlossen wurde. Und auch während der Corona-Pandemie wurden weitere kreative Maßnahmen von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen initiiert, wie beispielsweise „Kiez-Blocks“ oder Pop-up Radewege. Nicht nur die Nutzung öffentlicher städtischer Flächen wird dadurch infrage gestellt, insgesamt gewinnen Themen wie Gesundheit, Lebensqualität und Umweltgerechtigkeit an Bedeutung.
Weitere Informationen zum Projekt GroeG finden Sie hier
Quellen
#Kiezblocks: https://www.kiezblocks.de/, zuletzt abgerufen am 18.05.2021.
Changing Cities (2021): https://changing-cities.org/, zuletzt abgerufen am 18.05.2021.
Der Tagesspiegel (20.02.2018): „Senat beschließt Radgesetz Berlin soll binnen zehn Jahren zur Fahrradstadt werden„, zuletzt abgerufen am 18.05.2021.
Europäische Union (EU) (2008): Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa. 2008/50/EG., zuletzt abgerufen am 18.05.2021.
Stadt Berlin (2021): Umweltatlas. https://www.berlin.de/umweltatlas/luft/, zuletzt abgerufen am 18.05.2021.
Volksentscheid Fahrrad: https://volksentscheid-fahrrad.de/de/willkommen-beim-volksentscheid/, zuletzt abgerufen am 18.05.2021.