Partizipative Forschung

28.06.2021

„Bücher allein reichen nicht“

Ein Interview mit Hella von Unger über partizipative Forschung

Das Forschungsdesign von ZivilKoop enthält Elemente partizipativer Forschung. Hella von Unger, Professorin für Qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung an der LMU München, erklärt im Interview, was „partizipativ forschen“ im Kern bedeutet. Die Soziologin macht deutlich: In der partizipativen Forschung wird Wissen nicht im Elfenbeinturm, sondern partnerschaftlich mit den Akteur:innen aus der Praxis generiert.

 

Der Begriff „partizipative Forschung“ beschreibt keine Forschungsmethode, sondern verweist vielmehr auf einen Forschungsstil. Was sind die zentralen Charakteristika dieses Forschungsstils?

In meinem Verständnis zeichnet sich partizipative Forschung durch drei wesentliche Aspekte aus: 1) Es ist immer eine kollaborative Forschung, bei der Menschen aus den Lebenswelten, um die es geht, als Co-Forschende und Partner:innen beteiligt sind; 2) finden nicht nur Forschungs-, sondern auch Lern- und Entwicklungsprozesse statt, sowie Prozesse der individuellen und kollektiven (Selbst-)Ermächtigung, auch Empowerment genannt; 3) geht es insgesamt darum, soziale Wirklichkeit nicht nur besser zu verstehen, sondern auch zu verändern. Einzelne Ansätze des Forschungsstils formulieren darüber hinaus weitere Merkmale, die für das jeweilige Feld oder den spezifischen Ansatz konstitutiv sind.

Im ZivilKoop-Projekt möchten wir auf der Basis unserer Befunde gemeinsam mit den Akteur:innen aus der Praxis förderliche kommunalpolitische Handlungsansätze weiterentwickeln. Das berührt die von Dir genannten Punkte „Empowerment“ und „soziale Wirklichkeit verstehen und verändern“. Könntest Du diese beiden Merkmale partizipativer Forschung noch genauer erläutern?

Empowerment beschreibt einen Prozess der individuellen und kollektiven Selbstermächtigung, der dazu führt, dass Personen und Gruppen mehr Kontrolle über ihr Leben oder eine bestimmte Situation haben. Der Spielraum, in dem sie handeln und Einfluss nehmen können, ist also erweitert. Das ist insbesondere für Gruppen wichtig, die im gesellschaftlichen Leben bislang benachteiligt sind und deren Teilhabe im Vergleich zu anderen Gruppen eingeschränkt ist.

Partizipative Forschung will die Situation dieser Menschen besser verstehen, aber diese Personen sollen auch einen Mehrwert davon haben. Das heißt für partizipative Forschung ist es ok, dass sie Einfluss nimmt. Ja noch mehr: Partizipative Forschung will sogar Einfluss nehmen. Es ist ja sowieso in der Regel so, dass Forschung immer auch eine Intervention ist, weil beispielsweise die Art, wie wir fragen stellen (oder was wir nicht fragen), etwas mit den Personen macht, die auf die Fragen antworten. In der partizipativen Forschung versuchen wir, diese Interventionshaftigkeit proaktiv zu nutzen. Dass das natürlich nicht immer genau so klappt, wie wir uns das vorstellen, ist auch klar. Denn Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten lassen sich nicht über Nacht oder innerhalb einer Projektlaufzeit abbauen – aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Hin zu mehr Teilhabe, Menschenrechte, Gesundheit und Gerechtigkeit für alle.

Du hast auch die Beteiligung der Akteur:innen aus der Praxis als Co-Forschende genannt. Eine solche Beteiligung kann unterschiedliche Formen annehmen. Was sind denn typische Formen bzw. Stufen der Beteiligung in der partizipativen Forschung? Wir im ZivilKoop-Projekt möchten beispielsweise mit unseren Partner:innen gemeinsam Zwischenergebnisse beleuchten und reflektieren.

Ein Alleinstellungsmerkmal der partizipativen Forschung ist genau diese Beteiligung von Nicht-Wissenschaftler:innen, von Menschen aus den Lebenswelten und Kontexten, um die es geht, in forschender Funktion. Sie nehmen als Partner:innen und Co- oder Mitforschende an Projektentscheidungen und Forschungsaktivitäten teil – sie haben Mitbestimmungsmacht. Das ist in dem Stufenmodell der Partizipation, das Michael Wright, Martina Block und ich im Anschluss an das Modell der Bürgerbeteiligung von Sherry Arnstein entwickelt haben, der Unterschied zwischen wichtigen „Vorstufen“ der Partizipation und echter Partizipation. Sherry Arnstein hat mal gesagt: „There is a critical difference between going through the empty ritual of participation and having the real power needed to affect the outcome of the process“ (Arnstein 1969: S. 216). Scheinpartizipation gilt es also in jedem Fall zu vermeiden. Wenn Ihr Zwischenergebnisse gemeinsam diskutiert, ist das eine Form der Beteiligung auch an der Auswertung, was super ist. Aber Ihr solltet darauf achten, dass die Partner:innen auch eine Möglichkeit haben, andere, eigene Lesarten zu entwickeln und Schwerpunkte zu setzen. Nur „Ja“ oder „Nein“ zu etwas zu sagen, das Ihr als Forschende vorgebt, wäre etwas zu wenig.

Eine Frage zur Geschichte der partizipativen Forschung: Wo liegen deren Ursprünge?

Eine wichtige Figur für die Entwicklung der Aktionsforschung, einer ersten Variante der heutigen partizipativen Forschung, war Kurt Lewin, ein Sozialwissenschaftler jüdischer Herkunft, der von den Nazis aus Deutschland flüchten musste. Lewin war fest davon überzeugt, dass Forschung einen Beitrag leisten muss, drängende gesellschaftliche Probleme zu lösen. Bücher allein reichen nicht.

Partizipative Forschung ist außerdem stark von emanzipatorischen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre geprägt, zum Beispiel durch die Arbeiten von Paolo Freire und seinem Alphabetisierungsprogramm in Brasilien, durch feministische Einflüsse und weitere soziale Bewegungen sowie heute auch stark durch postkoloniale und indigene Stimmen, die eine Beteiligung an der Wissensproduktion einfordern. Das passiert zum Beispiel im nordamerikanischen Raum vor dem Hintergrund einer problematischen Wissenschaftsgeschichte, in der Forschung zu oft koloniale, heteronormative und andere Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse stabilisiert und legitimiert hat. Diese Communities sagen heute: „Da machen wir nicht mehr mit. Wenn Forschung mit uns, dann wollen wir beteiligt werden.“

Umso positiver, dass partizipative Forschung in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnt.

Ja, das ist höchste Zeit. Es passiert gerade viel, auch in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften, aber ein bisschen hinken wir immer noch hinter internationalen Entwicklungen hinterher.

Partizipative Forschung in Zeiten der Corona-Pandemie: Was sind Deiner Ansicht nach spezifische Herausforderungen für Wissenschaft und Praxis und was können wir für die Zukunft daraus lernen?

In einem aktuellen DFG-Projekt mit geflüchteten Menschen (EMPOW) waren die Corona-bedingten Einschränkungen vor allem in den Lockdown-Phasen sehr deutlich zu spüren. Sich nicht mehr oder nur noch online treffen zu können, war ein riesen Problem – vor allem für die Community-Partner:innen, die in den Unterkünften kein W-LAN oder keine Privatsphäre haben, um an Videocalls teilzunehmen. Aber gleichzeitig bieten digitale Medien auch große Chancen. EMPOW-Projektpartner:innen in Hannover haben beispielsweise soziale Medien genutzt, um sich zu vernetzen und kleine Videos zu machen, um sich und anderen in der Corona-Pandemie zu helfen. Auch viele Citizen Science-Projekte nutzen Apps und digitale Medien auf tolle, innovative Weise. Nachzuhören beispielsweise im neunten Highways to Health Podcast, bei dem ich im Februar zu Gast war.

Das Interview führte Alexander Kanamüller.

 

Literatur

Arnstein, Sherry R. (1969): A Ladder Of Citizen Participation, Journal of the American Institute of Planners, 35:4, 216-224.

Zum Weiterlesen:

von Unger, Hella (2014): Partizipative Forschung, Einführung in die Forschungspraxis, Springer VS, Wiesbaden.

von Unger, Hella (2020): Partizipative Forschung. In: Selke, Stefan/Neun, Oliver/Jende, Robert/Lessenich, Stephan/Bude, Heinz (Hg.): Handbuch Öffentliche Soziologie, Springer VS, Wiesbaden.

 

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